Die Illu­sion unse­res Wis­sens

Am 6. Januar 1995 über­fällt Mac­Ar­thur Whee­ler nach­ein­an­der zwei Ban­ken in Pitts­burgh. Im April wird er ver­haf­tet, und als die Poli­zei ihm mit­teilt, dass er dank der Video­über­wa­chung erkannt wurde, ist er ver­blüfft und sagt: „Aber ich habe doch die Säure auf­ge­tra­gen“. Whee­ler erklärte dann, dass ihm jemand gezeigt habe, wie man unsicht­bare Tinte mit Zitro­nen­saft her­stellt, und er dachte, dass sein Gesicht nicht auf den Über­wa­chungs­ka­me­ras zu sehen sein würde, wenn er es mit Zitro­nen­saft beschmierte. Er selbst war von der Rich­tig­keit sei­ner Idee über­zeugt, als er ein Pola­roid-Sel­fie mit Zitro­nen­saft auf sei­nem Gesicht machte: Er war auf dem Foto nicht zu sehen. Die Poli­zei ver­mu­tete, dass seine Kamera defekt war oder er ein­fach nicht rich­tig gezielt hatte. Wie dem auch sei, Whee­ler zahlte den Preis für seine Illu­sion des Wis­sens und wurde einige Tage spä­ter ins Gefäng­nis gebracht.

Die­ser Arti­kel erschien im Inter­na­tio­nal Alma­nac 1996, wo er von David Dun­ning, Psy­cho­lo­gie­pro­fes­sor an der Cor­nell Uni­ver­sity, ent­deckt wurde. Als Dun­ning von Whee­ler las, kam ihm der Gedanke, dass diese Geschichte fast uni­ver­sell ist: Je weni­ger wir über ein Thema wis­sen, desto weni­ger sind wir in der Lage, das Aus­maß zu mes­sen, in dem wir die­ses Thema nicht beherr­schen.

Viel­leicht kennst du die Situa­tion: Du hast Freunde zu Besuch und beschließt, ein Rezept nach­zu­ko­chen, das du am Abend zuvor in einer Koch­sen­dung gese­hen hast. Schließ­lich sah es auf dem Bild­schirm gar nicht so kom­pli­ziert aus. Du bist zuver­sicht­lich, dass dein Gericht lecker wird und du bist sogar ein biss­chen stolz dar­auf, es dei­nen Gäs­ten zu ser­vie­ren. Aber dann kommt die kalte Dusche: Nie­mand isst den Tel­ler leer. Du bist Opfer dei­ner Selbst­über­schät­zung gewor­den.

Die Sen­dung „Nor­bert, com­mis d’of­fice“ auf dem fran­zö­si­schen Fern­seh­sen­der 6Ter ist eigent­lich Geschmacks­ver­bre­chern gewid­met, die die Grund­re­geln des Kochens nicht beherr­schen, sich aber für echte Köche hal­ten. Die Teil­neh­mer der Rea­lity-Show erklä­ren vor lau­fen­der Kamera, dass sie von ihrem kuli­na­ri­schen Talent über­zeugt sind und sich nicht wun­dern, vom Chef­koch Nor­bert Tarayre für ein gemein­sa­mes Koch­pro­jekt aus­ge­wählt wor­den zu sein. Als Nor­bert ihnen ver­rät, dass sie von einem gelieb­ten Men­schen wegen einer kuli­na­ri­schen Ver­feh­lung ange­zeigt wur­den, sind sie ver­blüfft und neh­men die Anschul­di­gung nicht gut auf. Der Chef­koch bie­tet ihnen dar­auf­hin an, ihnen eine gas­tro­no­mi­sche Ver­sion des Gerichts bei­zu­brin­gen, von dem sie glaub­ten, es zu beherr­schen. Ent­mu­tigt tun sich die meis­ten schwer. Doch unter Nor­berts Anlei­tung gewin­nen sie nach und nach ihr Selbst­ver­trauen zurück und zau­bern ein Gericht, das eines Spit­zen­re­stau­rants wür­dig ist. Die Teil­neh­mer der Show schwan­ken also zwi­schen einem unge­recht­fer­tig­ten Höhe­punkt des Selbst­mit­leids, gefolgt von einem Zustand der Ver­zweif­lung, der aus der Erkennt­nis des Aus­ma­ßes ihrer Unwis­sen­heit resul­tiert, und schließ­lich einem all­mäh­li­chen Anstieg des Wis­sens und des Selbst­mit­leids.

Das lässt sich auf alle Lebens­be­rei­che über­tra­gen: Wenn wir anfan­gen, ein Musik­in­stru­ment zu spie­len, den­ken wir oft, es sei gar nicht so kom­pli­ziert. Auf dem Kla­vier kön­nen wir „Alle meine Ent­chen” schon nach weni­gen Minu­ten pro­blem­los spie­len. Aber wenn wir mit die­sem Instru­ment wei­ter­ma­chen, wer­den wir bald fest­stel­len, dass es nicht so schnell geht: Es wird Monate, wenn nicht Jahre dau­ern, bis wir Beet­ho­vens Sona­ten beherr­schen. Wir wer­den eine Phase des Kon­zen­tra­ti­ons­ver­lus­tes und der Demo­ti­va­tion durch­ma­chen. Manch­mal wer­den wir sogar den­ken, dass wir es nie schaf­fen wer­den: Dann müs­sen wir die­ses Pla­teau durch harte Arbeit über­win­den.

Ähn­lich ist es, wenn wir eine neue Spra­che ler­nen, zum Bei­spiel Spa­nisch. Wir kön­nen uns sehr schnell über grund­le­gende Dinge unter­hal­ten. Aber wenn wir Don Qui­jote in der Ori­gi­nal­spra­che von Cer­van­tes auf­schla­gen, wird uns wahr­schein­lich schwin­de­lig, wenn wir daran den­ken, wie viel wir noch ler­nen müs­sen! Am Anfang jedes Lern­pro­zes­ses steht oft eine unge­recht­fer­tigte Ver­dich­tung unse­res Wis­sens über ein Thema.

Dun­ning und sein Stu­dent Jus­tin Kru­ger woll­ten die­ser kogni­ti­ven Reise eine wis­sen­schaft­li­che Grund­lage geben und führ­ten eine Reihe von Expe­ri­men­ten durch, die es ihnen ermög­lich­ten, den heute nach ihnen benann­ten Effekt wie folgt zu beschrei­ben.

Um diese Kurve zu erstel­len, führ­ten die bei­den Wis­sen­schaft­ler ein ers­tes Expe­ri­ment durch, um zu bestä­ti­gen, dass unser Wis­sen tat­säch­lich dann am größ­ten ist, wenn es uns am meis­ten fehlt. Dun­ning und Kru­ger stell­ten eine Gruppe von Stu­den­ten zusam­men, denen sie eine Reihe von Fra­gen zu Gram­ma­tik und logi­schem Den­ken stell­ten. Bevor sie ihnen die Ergeb­nisse mit­teil­ten, baten sie die Teil­neh­mer, ihre Erfolgs­quote ein­zu­schät­zen. Das Expe­ri­ment zeigte, dass die schlech­tes­ten Schü­ler der Klasse am ehes­ten dazu neig­ten, ihre Ergeb­nisse und Fähig­kei­ten zu über­schät­zen. Sie ver­harr­ten auf ihrem ers­ten Höhe­punkt der Selbst­über­schät­zung.

In einem zwei­ten Expe­ri­ment woll­ten Dun­ning und Kru­ger her­aus­fin­den, ob es mög­lich ist, die­sen Höhe­punkt der Selbst­über­schät­zung zu ver­rin­gern. Zu die­sem Zweck stell­ten sie die Schü­ler zusam­men, die zu Beginn am selbst­be­wuss­tes­ten waren, und teil­ten ihnen die Ant­wor­ten auf die Gram­ma­tik- und Logik­fra­gen mit. Sie kamen zu fol­gen­dem Schluss: “Para­do­xer­weise haben wir durch die Ver­bes­se­rung ihrer intel­lek­tu­el­len Fähig­kei­ten und die Ver­mitt­lung neuen Wis­sens den Schü­lern gehol­fen, zu erken­nen, dass sie anfangs nicht genug wuss­ten, und ihnen so die Gren­zen ihres Wis­sens vor Augen geführt.

Dann frag­ten sie die Schü­ler, was sie von dem Expe­ri­ment hiel­ten: Nach dem Ver­las­sen des Ver­dich­tungs­gip­fels und der Ein­schät­zung des­sen, was noch zu ler­nen war, durch­lie­fen die Schü­ler zunächst eine Phase der Ent­mu­ti­gung, bevor sie erkann­ten, dass sie ihren Auf­stieg zum Wis­sen wie­der auf­neh­men konn­ten. So ent­stand die Kurve auf der vor­he­ri­gen Seite.

Die­ser Gip­fel der Selbst­ge­fäl­lig­keit erklärt sich aus unse­rer Illu­sion der Erklär­bar­keit: Wir glau­ben oft, die Welt bes­ser zu ver­ste­hen, als wir es tat­säch­lich tun. Ange­regt durch die Arbei­ten von Dun­ning und Kru­ger wollte die bri­ti­sche For­sche­rin Rebecca Law­son bewei­sen, dass wir uns nicht nur in der Tiefe unse­res Wis­sens irren, son­dern auch in des­sen Rele­vanz. Sie führte das fol­gende Expe­ri­ment durch, um zu zei­gen, dass wir die Funk­ti­ons­weise von All­tags­ge­gen­stän­den nicht voll­stän­dig ver­ste­hen. Rebecca Law­son ver­sam­melte eine Gruppe von Erwach­se­nen, die alle schon ein­mal Fahr­rad gefah­ren waren, und bat sie, aus dem Gedächt­nis ein funk­tio­nie­ren­des Fahr­rad zu zeich­nen. Ich zeige hier einige Bei­spiele von Zeich­nun­gen, die von den Teil­neh­mern ange­fer­tigt wur­den:

Viele von uns den­ken, dass es nichts Ein­fa­che­res gibt, als ein Fahr­rad zu zeich­nen, aber kei­nes der oben gezeig­ten Fahr­rä­der ist funk­ti­ons­fä­hig. Ins­ge­samt gelang es fast kei­nem der Teil­neh­mer, ein funk­tio­nie­ren­des Fahr­rad zu zeich­nen, und 40 % konn­ten nicht ein­mal unter meh­re­ren Dar­stel­lun­gen ein poten­zi­ell funk­tio­nie­ren­des Fahr­rad iden­ti­fi­zie­ren. Etwas zu visua­li­sie­ren, d.h. es in sei­ner Abwe­sen­heit zu sehen und klar zu erklä­ren, wie es funk­tio­niert, ist eine viel schwie­ri­gere Auf­gabe als das, was wir mit unse­ren eige­nen Augen sehen, wie­der­zu­ge­ben.

Wir über­schät­zen stän­dig unsere Fähig­keit zu ver­ste­hen, wie die Welt funk­tio­niert. Es ist wich­tig, sich des­sen bewusst zu sein und nicht jedes Mal, wenn wir eine neue Dis­zi­plin ent­de­cken oder mit neuen Ideen kon­fron­tiert wer­den, auf dem Gip­fel unse­rer Selbst­ge­fäl­lig­keit ste­hen zu blei­ben. Las­sen wir uns viel­mehr dar­auf ein, in die Tie­fen des Wis­sens ein­zu­tau­chen: Wir wer­den alles bereit­wil­li­ger tun, denn wie die Kurve zeigt, folgt auf die Ent­mu­ti­gung ange­sichts des Umfangs des­sen, was noch zu ler­nen ist, der Auf­stieg zu soli­de­rem Wis­sen.

Soziale und poli­ti­sche Fol­gen

In ihrer Stu­die „Boss com­pe­tence and worker well-being“ haben drei bri­ti­sche For­scher ein Pro­blem auf­ge­grif­fen, das heute in vie­len Unter­neh­men anzu­tref­fen ist: Nicht immer wer­den die fähigs­ten Leute beför­dert, und oft fin­den sich Unter­qua­li­fi­zierte in wich­ti­gen Posi­tio­nen. Der Dun­ning-Kru­ger-Effekt gibt Men­schen, die auf dem Höhe­punkt ihres Selbst­ver­trau­ens ste­hen blei­ben, ein ech­tes Gefühl der Über­le­gen­heit. Mit­tel­mä­ßige Per­so­nen trauen sich daher zu, Posi­tio­nen anzu­stre­ben, für die sie nicht qua­li­fi­ziert sind, und ihr Selbst­ver­trauen ermög­licht es ihnen, diese zu errei­chen.

Der fran­zö­si­sche Kin­der­psych­ia­ter Gabriel Wahl erklärt in sei­nem Buch „Les Adul­tes sur­doués“, dass im Gegen­satz zu dem oben Gesag­ten hoch­kom­pe­tente Men­schen, ins­be­son­dere so genannte Hoch­be­gabte, ihre Fähig­kei­ten unter­schät­zen und stän­dig Angst haben, nicht „dazu­zu­ge­hö­ren“. Die­ses Syn­drom, das oft auch als „Hoch­stap­ler­syn­drom“ bezeich­net wird, ist das nega­tive Gegen­stück zum Dun­ning-Kru­ger-Effekt. Es führt dazu, dass Men­schen, die unter die­sem Syn­drom lei­den, Posi­tio­nen anneh­men, die unter ihrem Ver­dienst lie­gen. Und die Kom­bi­na­tion bei­der Effekte führt zu einer absur­den Rea­li­tät: Unter­qua­li­fi­zierte füh­ren Über­qua­li­fi­zierte.

Bereits in den 1970er Jah­ren haben Lau­rence J. Peter und Ray­mond Hull, zwei kana­di­sche Pro­fes­so­ren, die sich auf Fra­gen der Unter­neh­mens­hier­ar­chie spe­zia­li­siert haben, diese Theo­rie in einem Buch mit dem Titel „The Peter Prin­ci­ple“ wei­ter­ent­wi­ckelt. Sie zeig­ten, dass in einem Unter­neh­men in der Regel jeder Mit­ar­bei­ter bis zu sei­ner Inkom­pe­tenz­schwelle beför­dert wird. Da sie nicht degra­diert wer­den kön­nen, set­zen sie ihre Kar­riere mit Ver­ant­wor­tung fort, die sie nicht erfül­len kön­nen. Die Über­for­de­rung der weni­ger fähi­gen Mit­ar­bei­ter, das Hoch­stap­ler­syn­drom der fähi­ge­ren Mit­ar­bei­ter — all dies in Kom­bi­na­tion mit dem Peter-Prin­zip — sind Fall­stri­cke für Unter­neh­mens­lei­ter, die ver­hin­dern wol­len, dass ihre Unter­neh­men von Füh­rungs­kräf­ten gelei­tet wer­den, die ihrer Ver­ant­wor­tung nicht gerecht wer­den kön­nen, wäh­rend die fähi­ge­ren Mit­ar­bei­ter in unter­ge­ord­nete Posi­tio­nen abge­drängt wer­den.

Anne Bor­ing, Lei­te­rin des Lehr­stuhls „Women in Busi­ness“ an der Sci­en­ces Po Paris, erklärte kürz­lich, dass das Hoch­stap­ler­syn­drom auch ein ech­tes geschlechts­spe­zi­fi­sches Pro­blem sei: „Junge Frauen lei­den mehr unter dem Hoch­stap­ler­syn­drom als Män­ner. Sie haben nicht immer das Gefühl, ihre Pro­jekte legi­tim ver­tei­di­gen zu kön­nen“. Die Folge ist, dass Frauen weni­ger als Män­ner Füh­rungs­po­si­tio­nen anstre­ben, weil sie befürch­ten, die­ser Ver­ant­wor­tung nicht gerecht zu wer­den und damit einen pro­ble­ma­ti­schen Prä­ze­denz­fall zu schaf­fen: Je weni­ger sie diese lei­ten­den oder bes­ser bezahl­ten Posi­tio­nen ein­neh­men, desto weni­ger wer­den sich die Frauen der nächs­ten Gene­ra­tio­nen trauen und diese erlernte Hilf­lo­sig­keit eben­falls ver­in­ner­li­chen.

Die ame­ri­ka­ni­sche kli­ni­sche Psy­cho­lo­gin Pau­line Rose Clance war 1978 die erste, die die­ses Phä­no­men in einem Buch mit dem Titel Impostor Phe­no­me­non theo­re­tisch dar­legte. Sie schrieb es, nach­dem sie bei meh­re­ren Frauen in ihrem Bekann­ten­kreis eine völ­lige Unfä­hig­keit beob­ach­tet hatte, Erfolg zu ver­in­ner­li­chen. Obwohl sie alle bril­lante Kar­rie­ren hat­ten, hör­ten sie nicht auf, sich selbst schlecht zu machen. Noch heute sind 44,8 % der weib­li­chen Arbeits­kräfte in Frank­reich in Sek­to­ren mit nied­ri­gem Ein­kom­men wie öffent­li­che Ver­wal­tung, Gesund­heit, Bil­dung und Sozi­al­ar­beit kon­zen­triert. 59 Aller­dings hat­ten 2017 in Frank­reich 31,3 Pro­zent der Frauen im Alter von 25 bis 34 Jah­ren einen Abschluss über dem BA-Niveau, aber nur 26,4 Pro­zent der Män­ner. Obwohl sie also im Durch­schnitt über mehr Bil­dungs­ab­schlüsse ver­fü­gen als Män­ner, neh­men die meis­ten Frauen unbe­wusst in Kauf, dass ihre beruf­li­chen Erfolgs­chan­cen gerin­ger sind.

Auch wenn sich die west­li­chen Gesell­schaf­ten heute im All­ge­mei­nen in Rich­tung einer grö­ße­ren Gleich­be­rech­ti­gung der Geschlech­ter ent­wi­ckelt haben und auch wenn viele Frauen erfolg­reich sind, wagt eine Frau aus Angst, nicht gut genug zu sein, sel­te­ner als ein Mann, um eine Posi­tion zu kämp­fen. Aus den glei­chen Grün­den wird eine Frau bei glei­cher Qua­li­fi­ka­tion sel­te­ner um eine Beför­de­rung oder Gehalts­er­hö­hung bit­ten als ein Mann. Das Hoch­stap­ler­syn­drom ist bei Frauen also eine Form der erlern­ten Hilf­lo­sig­keit.

Wenn fal­sche Ideen wahr klin­gen

Wir alle erle­ben Momente, in denen wir uns unse­rer Sache beson­ders sicher sind. Des­halb nei­gen wir manch­mal dazu, ver­ein­fa­chende und fal­sche Vor­stel­lun­gen als abso­lute Wahr­hei­ten zu betrach­ten. Im Gesund­heits­sek­tor ent­ste­hen Trends auf der Grund­lage pri­mä­rer, spon­ta­ner und schein­bar kohä­ren­ter Über­zeu­gun­gen. Eine allzu ver­ein­fa­chende Her­an­ge­hens­weise an kom­plexe The­men, wie z. B. die posi­ti­ven oder schäd­li­chen Aus­wir­kun­gen von Imp­fun­gen, kann dazu füh­ren, dass wir uns unse­res all­ge­mei­nen Ver­ständ­nis­ses die­ser The­ma­tik beson­ders sicher sind.

Ein Teil der Impf­geg­ner geht davon aus, dass Imp­fun­gen eine Ursa­che für Autis­mus bei Kin­dern sein könn­ten. Die­ser Gedanke wurde nach einem irre­füh­ren­den Arti­kel zu die­sem Thema ent­wi­ckelt. In Frank­reich ergab eine Stu­die aus dem Jahr 2016, dass nur 59 Pro­zent der Fran­zo­sen „immer Ver­trauen“ in Imp­fun­gen haben. Der For­scher Matthew Motta von der Yale Uni­ver­sity inter­es­sierte sich für die­sen skep­ti­schen Dis­kurs, der vor allem von Laien in den sozia­len Medien geführt wird. Motta stellte fest, dass die­ser Dis­kurs nach der welt­wei­ten kos­ten­lo­sen Aus­strah­lung des Films Vax­xed zwi­schen dem 1. und 8. Novem­ber 2018 beson­ders stark war. In die­sem Anti-Impf-Doku­men­tar­film wird ver­sucht, die Gefähr­lich­keit der Masern-Mumps-Röteln-Imp­fung (MMR), der ein­zi­gen Pflicht­imp­fung für Neu­ge­bo­rene in Frank­reich, anhand einer Reihe von Fäl­len von Kin­dern auf­zu­zei­gen, die nach der Imp­fung Pro­bleme aus dem autis­ti­schen Spek­trum ent­wi­ckelt haben. Der Feh­ler ist ein dop­pel­ter:

  • Vax­xed lie­fert kei­nen Beweis für einen kau­sa­len Zusam­men­hang zwi­schen Imp­fung und Autis­mus
  • Der Film berück­sich­tigt nicht die ande­ren Fälle (von denen es viel mehr gibt), in denen Kin­der geimpft wur­den, ohne sol­che Stö­run­gen zu ent­wi­ckeln

Zusam­men­fas­send lässt sich sagen, dass die ent­schie­de­nen Kri­ti­ker von Kin­der­imp­fun­gen eher anek­do­ti­sche Evi­denz („Ich kenne jeman­den, der …“) als wis­sen­schaft­li­che Evi­denz („Diese Men­schen (x %) haben eine Stö­rung ent­wi­ckelt“) bevor­zu­gen. Motta bemerkte, dass die meis­ten Impf­geg­ner, nach­dem sie Vax­xed gese­hen hat­ten, davon über­zeugt waren, dass sie das Thema bes­ser beherrsch­ten als die Ärzte selbst. Das beweist ihre über­trie­bene Vor­ein­ge­nom­men­heit. Als Folge der zuneh­men­den Ver­brei­tung die­ser Bewe­gung, die über die MMR-Imp­fung hin­aus­geht (siehe z.B. die Ableh­nung des COVID-19-Impf­stoffs), wurde ein Rück­gang der Impf­ra­ten beob­ach­tet, was zum Wie­der­auf­tre­ten von Krank­hei­ten wie Masern, Tuber­ku­lose oder Krätze bei Kin­dern führte, von denen wir glaub­ten, dass sie voll­stän­dig ver­schwun­den waren. Hier liegt die Gefahr, Theo­rien zu glau­ben, die auf zu ein­fa­chen Erklä­run­gen beru­hen.

Donald Trump sonnte sich in sei­nem eige­nen Selbst­ver­trauen, als er bei­spiels­weise eine Theo­rie auf­stellte, die seine Abs­ti­nenz von jeg­li­cher Form kör­per­li­cher Akti­vi­tät recht­fer­tigte. Zwei Jour­na­lis­ten der Washing­ton Post berich­te­ten, Donald Trump habe beob­ach­tet, dass viele sei­ner sport­li­chen Kom­mi­li­to­nen spä­ter gesund­heit­li­che Pro­bleme gehabt hät­ten. Aus die­ser Beob­ach­tung zog er die fal­sche Schluss­fol­ge­rung: Der mensch­li­che Kör­per ver­füge — wie ein elek­tro­ni­sches Gerät — nur über eine begrenzte Menge an Ener­gie, und Sport könne dazu bei­tra­gen, diese Bat­te­rie zu ent­lee­ren. Dar­aus schloss er, dass man sich nicht bewe­gen sollte, um gesund zu blei­ben.

Heut­zu­tage will man uns weis­ma­chen, dass jeder alles ganz schnell ver­ste­hen kann. Auf You­Tube ver­spre­chen Videos, uns in weni­gen Minu­ten alles über kom­plexe The­men wie Poli­tik, Wis­sen­schaft und Öko­lo­gie bei­zu­brin­gen. Blogs von „Exper­ten“ zu allen erdenk­li­chen The­men tau­chen plötz­lich jeden Tag auf und sind manch­mal sehr erfolg­reich. Indem das Inter­net jedem eine Stimme und ein Publi­kum gibt, ist es der beste Nähr­bo­den für das Auf­kom­men fal­scher Exper­ten und ech­ter Schar­la­tane. Laut Umberto Eco geben die sozia­len Medien Legio­nen von Dumm­köp­fen das Recht zu spre­chen, die frü­her nur in der Kneipe nach einem Glas Wein spre­chen konn­ten, ohne der Gemein­schaft zu scha­den, heute aber das glei­che Recht haben wie ein Nobel­preis­trä­ger.

Diese Fülle an Infor­ma­tio­nen ver­lei­tet uns manch­mal dazu, Ent­schei­dun­gen zu tref­fen, die uns die Illu­sion ver­mit­teln, das Warum und Wie eines Pro­blems zu ken­nen. In Eng­land war am 24. Juni 2016, dem Tag nach dem Brexit-Refe­ren­dum, der am häu­figs­ten gesuchte Begriff auf Google im Ver­ei­nig­ten König­reich „Was ist der Brexit“, gefolgt von „Was ist die Euro­päi­sche Union“. Dies zeigt, dass viele Bri­ten am 23. Juni ihre Stimme abge­ge­ben haben, ohne wirk­lich zu wis­sen, wofür oder woge­gen sie stimm­ten. Als sie mit dem Wahl­er­geb­nis kon­fron­tiert wur­den, woll­ten sie dar­über infor­miert wer­den.

Und nicht nur das: Viele „Brexi­te­ers“ bedau­ern heute ihre Ent­schei­dung und for­dern eine neue Abstim­mung. Im Juli 2018 sam­melte eine Peti­tion für ein neues Refe­ren­dum, die von der Tages­zei­tung The Inde­pen­dent auf Initia­tive der dama­li­gen Bil­dungs­mi­nis­te­rin Jus­tine Gree­ning ins Leben geru­fen wurde, in nur zwei Tagen 200.000 Unter­schrif­ten. Im Novem­ber des­sel­ben Jah­res führte das Unter­neh­men Sur­va­tion eine Umfrage durch, um her­aus­zu­fin­den, ob die Bri­ten für oder gegen den Aus­tritt des Ver­ei­nig­ten König­reichs aus der EU sind: 54 Pro­zent stimm­ten gegen den Brexit, wäh­rend im Juni 2016 noch 54 Pro­zent der Bri­ten für den Aus­tritt gestimmt hat­ten. Nun, da sie bes­ser über den Brexit infor­miert sind, schei­nen einige Bri­ten ihre ursprüng­li­che Ent­schei­dung rück­gän­gig machen zu wol­len.

Ver­ein­fa­chungs­fal­len und pseudo-tief­grün­di­ger Unsinn

Viele kom­plexe Sach­ver­halte kön­nen absicht­lich auf eine fal­sche Ein­fach­heit redu­ziert wer­den. Die­ser Vor­gang ist Teil eines Trends, der als pseu­do­pro­fes­sio­nel­ler Bull­shit bezeich­net wird. Der ame­ri­ka­ni­sche Phi­lo­soph Harry Frank­furt defi­niert Bull­shit als „Rede, die ohne Rück­sicht auf die Wahr­heit über­zeu­gen soll“. Im Gegen­satz zur Lüge, die eine bewusste Mani­pu­la­tion der Wahr­heit dar­stellt, stützt sich Bull­shit auf fal­sche oder ver­kürzte spon­tane Über­zeu­gun­gen, indem er alles in eine attrak­tive Rede ver­packt. Ziel ist es, dar­aus Pro­fit zu schla­gen.

Gesund­heits­the­men sind ein gefun­de­nes Fres­sen für die Pseudo-Bull­shit-Indus­trie. Die Ent­gif­tungs­in­dus­trie zum Bei­spiel ver­packt ihre „Schlank­heits­pro­gramme“ und andere „Ent­gif­tungs­ku­ren“ mit schö­nen Ver­spre­chun­gen und ern­tet dafür große finan­zi­elle Beloh­nun­gen. Anstatt sich für eine gesün­dere Ernäh­rung und einen gesün­de­ren Lebens­stil zu ent­schei­den, las­sen wir uns manch­mal lie­ber von der hüb­schen Ver­pa­ckung der von unse­ren Lieb­lings­stars emp­foh­le­nen Detox-Saft­ku­ren ver­füh­ren oder ver­trauen auf Schlank­heits­mit­tel, die uns nicht auf wun­der­same Weise beim Abneh­men hel­fen, wenn wir uns zwi­schen zwei Detox-Kuren wei­ter­hin nicht rich­tig ernäh­ren und kei­nen Sport trei­ben.

Auch man­che Trends in der Per­sön­lich­keits­ent­wick­lung machen schöne Ver­spre­chun­gen, die so gut for­mu­liert sind, dass sie tief­grün­dig erschei­nen, obwohl sie oft bedeu­tungs­los sind. Um zu zei­gen, dass es manch­mal schwie­rig ist, ihre Leere zu erken­nen, führte der Psy­cho­lo­gie­pro­fes­sor Gor­don Pen­ny­cook von der Uni­ver­sity of Regina das fol­gende Expe­ri­ment durch: Er erzeugte künst­lich und zufäl­lig zehn pseu­do­tief­sin­nige Sätze mit Hilfe zweier Web­sites. Die erste Web­site lis­tet die am häu­figs­ten ver­wen­de­ten Wör­ter in den Tweets von Deepak Chopra auf, einem bekann­ten Autor von Selbst­hil­fe­bü­chern und lei­den­schaft­li­chen Ver­fech­ter alter­na­ti­ver Heil­me­tho­den. Die zweite Web­site trägt den bezeich­nen­den Namen „New Age Bull­shit Gene­ra­tor“: Es han­delt sich um eine Web­site, die eine Liste von Wör­tern ver­wen­det, die häu­fig in eso­te­ri­schen Zita­ten vor­kom­men, und diese dann nach dem Zufalls­prin­zip kom­bi­niert.

Einer der Sätze, die dabei ent­stan­den sind, lau­tet: „Ver­bor­gene Bedeu­tun­gen ver­wan­deln das Abs­trakte in das Schöne.“ Oder: „Wir sind Brü­der und Schwes­tern des Unend­li­chen“. Pen­ny­cook ver­sam­melt dann eine Gruppe von Chopra-Lesern und Anhän­gern von Selbst­hil­fe­me­tho­den. Er liest zehn künst­li­che Sätze zwi­schen authen­ti­schen Chopra-Zita­ten vor und bit­tet sie zu ent­schei­den, wel­che davon künst­lich sind. Die Teil­neh­mer kön­nen es nicht. Denn jeder Satz ist vage genug, um ihm eine Bedeu­tung zu geben und ihn nach eige­nem Gut­dün­ken zu inter­pre­tie­ren — ähn­lich wie ein Horo­skop.

Aber selbst wenn diese Sätze bedeu­tungs­los sind, was scha­det es, daran zu glau­ben? Haben wir nicht das Recht, ein wenig Poe­sie in unser Leben zu brin­gen, ein wenig Opti­mis­mus? Das Pro­blem sind nicht diese Sätze an sich, son­dern die Fälle, in denen diese pseudo-tief­grün­dige Rhe­to­rik „the­ra­peu­ti­sche“ Metho­den vor­aus­setzt, die als ebenso wirk­sam wie die Schul­me­di­zin dar­ge­stellt wer­den, wenn Gurus Dok­tor spie­len. Ich nahm an der Kon­fe­renz eines befreun­de­ten Psy­cho­lo­gen teil, der die Geschichte einer sei­ner Pati­en­ten erzählte, die ein Anhän­ger von Chopra und sei­nen vom Ayur­veda inspi­rier­ten the­ra­peu­ti­schen Metho­den war.

Sie­ben Jahre lang glaubte diese Mut­ter fest an die Wirk­sam­keit und brachte ihre Kin­der nie zu einem „rich­ti­gen“ Arzt. Eines Tages wurde einer ihrer Söhne krank: Wie üblich behan­delte sie ihn mit ayur­ve­di­schen Mit­teln, aber ohne Erfolg. Der Junge hatte Sta­phy­lo­coc­cus aureus, eine Infek­tion, die nur mit Anti­bio­tika geheilt wer­den kann. Als er im Kran­ken­haus ankam, war es zu spät, und ein Bein musste ampu­tiert wer­den. Die Lehre, die wir dar­aus zie­hen kön­nen, ist fol­gende: Solange wir nicht wirk­lich krank sind, kön­nen wir uns von alter­na­ti­ven Metho­den, die mit pseu­do­tief­grün­di­gem Geschwätz umhüllt sind, ver­füh­ren las­sen, denn sie kön­nen tat­säch­lich wie Pla­ce­bos wir­ken. Im Falle einer ernst­haf­ten Erkran­kung, sei sie kör­per­li­cher oder see­li­scher Art, kann uns ein zu gro­ßes Ver­trauen in diese scha­ma­nis­ti­schen Heil­mit­tel in Gefahr brin­gen.

Heute sind diese Metho­den popu­lär, und ähn­lich wie beim Detox-Trend gibt es eine regel­rechte Selbst­hilfe-Indus­trie. Einige Bücher, von denen Hun­dert­tau­sende ver­kauft wer­den, basie­ren auf ver­lo­cken­den Ver­spre­chun­gen: Erfolg im Leben, Reich­tum, die große Liebe etc. Einige glück­li­che Leser haben Erfolg und schrei­ben die­sen Erfolg die­sen Büchern zu, obwohl sie ihn vor allem sich selbst ver­dan­ken — sie sind nicht die Mehr­heit. Hät­ten die Mil­lio­nen Leser von Rhonda Byr­nes Best­sel­ler „The Secret“ erfolg­reich umge­setzt, was diese Selbst­hil­fe­me­thode ver­spricht, wüss­ten wir es.

Das Buch beginnt so: „Indem du dir des Geheim­nis­ses bewusst wirst, ent­deckst du, wie du alles haben, sein oder tun kannst, was du willst.“ Und um die­ses Ziel zu errei­chen, schlägt Rhonda Byrne eine unfehl­bare „wis­sen­schaft­li­che“ Methode vor: das Gesetz der Anzie­hung. Hier sind die Grund­la­gen: Wenn du an etwas denkst, von dem du träumst (Liebe, Geld, Erfolg usw.), kannst du es dank der Elek­tri­zi­tät in dei­nem Gehirn anzie­hen, die ein Magnet­feld erzeugt und die posi­ti­ven Wel­len des Uni­ver­sums anzieht. Du möch­test reich wer­den, ohne zu arbei­ten? Kein Pro­blem: schlafe mit einem Geld­schein auf der Stirn.

Diese Theo­rie hat keine wis­sen­schaft­li­che oder medi­zi­ni­sche Grund­lage. Einige Behand­lungs­zen­tren, wie z.B. JMC Psy­cho­the­rapy in den USA, stüt­zen ihre the­ra­peu­ti­schen Metho­den auf das Gesetz der Anzie­hung. Sie behaup­ten damit, schwere Trau­mata, z. B. sexu­el­len Miss­brauch, zu behan­deln und bestimmte psy­chi­sche Erkran­kun­gen wie Depres­sio­nen oder Ess­stö­run­gen zu hei­len. Es gibt auch „Zerti kats­aus­bil­dun­gen“, um „Meis­ter­trai­ner für das Gesetz der Anzie­hung“ zu wer­den. Eine Pati­en­tin berich­tete mir kürz­lich, sie habe an einem Semi­nar teil­ge­nom­men, in dem der Refe­rent die Recht­mä­ßig­keit des Geset­zes der Anzie­hung bewei­sen wollte, indem er die Teil­neh­mer auf­for­derte, sich eine 1‑Euro-Münze auf die Stirn zu kle­ben. Nach erfolg­rei­chem Abschluss der Übung erklärte der Refe­rent, dass das Gehirn dank des berüch­tig­ten Magnet­fel­des wie ein Magnet auf die Münze wirke.

Unsinn: Wenn die Münze an der Stirn klebt, dann des­halb, weil sie an der Haut klebt (der Effekt wäre der­selbe, wenn er ver­sucht hätte, sie an sei­nem Bein, sei­nem Bauch usw. zu befes­ti­gen). Mit einem Magnet­feld des Gehirns hat das nichts zu tun — sonst würde unsere Stirn wie ein Magnet von allen Kühl­schrän­ken ange­zo­gen! Eine der beun­ru­hi­gen­den Fol­gen die­ser Ver­liebt­heit in das Gesetz der Anzie­hung ist, dass heute Men­schen, die wirk­lich krank sind, in die Hände von „The­ra­peu­ten“ gera­ten, die glau­ben, über ech­tes Wis­sen zu ver­fü­gen. Es muss betont wer­den, dass diese nicht unbe­dingt böse Absich­ten haben. Viele von ihnen haben einen hohen Preis für ihre Aus­bil­dung bezahlt, weil sie von der wis­sen­schaft­li­chen Legi­ti­mi­tät des Geset­zes der Anzie­hung über­zeugt sind und sich der Illu­sion des Wis­sens hin­ge­ben.